Zu der Gedenkveranstaltung „75 Jahre Pogromnacht“ hatte die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit gemeinsam mit dem Interreligiösen Forum Lüdenscheid, dem Gedenkzellenverein und dem Katholischen Bildungswerk eingeladen, und eine beeindruckende Zahl von Menschen war ins Bürgerforum im Rathaus gekommen. Der Begrüßung von Hella Goldbach folgten eindrückliche und bewegende Beiträge: Berichte von Zeitzeugen, Musik von Yasmin Alijah, eindrückliche Reden von Bürgermeister Dieter Dzewas und die Verlesung der Namen ehemaliger jüdischer Mitbürger und Mitbürgerinnen Lüdenscheids, die bis auf wenige Ausnahmen alle dem Opfer des Naziterrors wurden.
Hanna Chapman geb. Stich erzählte, wie sie als Zwölfjährige den Tag nach der Pogromnacht erlebte. Sie erinnerte sich auch auch an die Reaktion ihres Vaters, als sie etwas in der Stadt Gehörtes über Juden zuhause erzählte: „Ich bin in einem sehr christlichen Elternhaus aufgewachsen. Als ich das erzählte, sagte mein Vater nur sehr deutlich: Jesus war auch Jude!“
Auch Richard Oettinghaus, der damals 14 Jahre alt war, hat die Auswirkungen der Pogromnacht auf dem Schulweg am nächsten Morgen hautnah erlebt. Besonders bewegte die Zuhörer, als er von der verkohlten Torah erzählte, die in der Corneliusstraße lag, wo sie aus dem Fenster des jüdischen Betsaales geworfen worden war.
Den Bericht einer weiteren Zeitzeugin verlas Heiner Bruns. Sie erinnert sich, dass sie die auf dem Schulweg gesehene Zerstörung ihrem Lehrer erzählte, der daraufhin den Kindern sagte: „Redet nicht darüber! Tut, als ob ihr nichts gesehen hättet!“
Wie auch der Bürgermeister mahnte der Superintendent in seiner Ansprache, dass die Erinnerung an das Grauen uns Heutige aufmerksam machen müsse für die Anfänge neuer Diskriminierungen und Ausgrenzungen.
Ansprache von Superintendent Klaus Majoress zum 09.11.2013 im Rathaus der Stadt Lüdenscheid
Meine Damen und Herren,
Gedenken und Erinnern ist „der erste Schritt zur Erlösung“. Und „Vergessen führt in die Gefangenschaft“ (Baal Schem Tov). Das Gedenken verändert sich mit den Jahren. Es gibt nur noch wenige, die die Novemberpogrome 1938 als Erwachsene erlebt haben, sowohl auf Seiten der Opfer als auch auf Seiten der Täter und Mitläufer. Aber wie schlimm wäre es, wenn uns das Gedenken verloren geht. Denn „Schweigen führt in Gefangenschaft.“ Wir gedenken, weil die Unfassbarkeit dessen, was vor 75 Jahren geschehen ist, hilft, sensibel zu werden für menschenverachtendes Unrecht in unseren Tagen. Wir gedenken, weil dies hilft, Wunden zu heilen. Und wir gedenken, weil wir nie wieder zulassen wollen, dass in unserem Land Menschen anderen Glaubens oder anderer Herkunft verfolgt und misshandelt werden
- Ungefähr 1.200 Synagogen und Gebetshäuser wurden in der Nacht vom 9. / 10. November niedergebrannt.
- 7.500 jüdische Geschäfte wurden zerstört.
- Privatwohnungen wurden verwüstet, Menschen ermordet, verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.
- Als Vorwand für die Novemberpogrome diente der NSDAP das Attentat des 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris. Grynszpan wollte mit seiner Tat auf die Deportation von 17.000 polnischen Jüdinnen und Juden aus Deutschland nach Polen aufmerksam machen. Unter ihnen waren auch seine Eltern gewesen.
- Nach dem 9. November wurde die „Arisierung“, also Zwangsenteignung, aller jüdischer Geschäfte und Betriebe angeordnet.
- Die Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Jüdinnen und Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung und Ermordung in ganz Europa.
„Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Land“ und „kein Prophet redet mehr.“ Diese beiden Sätze aus Psalm 74 unterstrich Dietrich Bonhoeffer in seiner Bibel. Daneben schrieb er das Datum: 9. November 1938.
Das ist jetzt 75 Jahre her. Der Übergang von der Diskriminierung wie etwa durch den „Judenboykott“ oder die Nürnberger Rassegesetze hin zur systematischen Verfolgung hatte begonnen. „Wer den Brand entfacht hat? Niemand oder alle. Entfacht hatten ihn wenige, dabei gestanden und geschwiegen haben viele, die Hände zum Löschen gehoben hat keiner,“ so hat es ein Darmstädter Schriftsteller Fritz Deppert geschrieben.
Und „Kein Prophet redet mehr“ – das hatte sich Dietrich Bonhoeffer in seiner Bibel unterstrichen. Weder in der evangelischen noch in der katholischen Kirche gab es eine eindeutige Stellungnahme gegen das Geschehen. Manche haben dieses Pogrom begrüßt und der Meldung einer Tageszeitung vom 10. November 1938 zugestimmt, dass der „Tempel des rachsüchtigen Judengottes in Flammen aufgegangen ist“.
„Der Tempel des rachsüchtigen Judengottes“ – das ist eine antijüdische Formulierung, die leider immer noch aktuell ist. Darum ist es für mich wichtig, mich diesen Erinnerungen, dieser Geschichte zu stellen. Erst Ende der 60er Jahre begannen Theologinnen und Theologen, sich mit der jahrhundertealten Tradition des christlichen Antijudaismus auseinanderzusetzen. Sie erkannten: Es gibt eine uralte Judenfeindschaft im Christentum, von Anfang an. Und weil es die gibt, haben die Kirchen kaum etwas gegen die Verbrechen der Nationalsozialisten getan. Martin Stöhr sagte einmal: Der physischen Verfolgung und Ermordung des europäischen Judentums ging die theologische Toterklärung des Judentums durch die Kirche voraus.
Als einer der ganz wenigen schreibt Dietrich Bonhoeffer schon 1933: die Kirche vor der Judenfrage. Und erörtert Bonhoeffer drei von seiner Kirche in dieser Situation geforderte Verhaltensweisen:
Erstens müsse sie den Staat auf die Folgen seines Handelns deutlich hinweisen, weil ein Teil der Bevölkerung ein Zuwenig an Recht erfährt.
Zweitens sei die Kirche allen Opfern staatlicher Willkür zur Hilfeleistung verpflichtet, nicht nur den eigenen Mitgliedern. Bonhoeffer fordert christliche Solidarität mit den verfolgten Juden allgemein, nicht nur mit den Judenchristen.
Drittens müsse die Kirche durch Widerstandshandlungen „dem Rad in die Speichen fallen“ und nicht nur „die Opfer unter dem Rad verbinden“.
Wie wichtig ist es, aus dem Erinnern das mitzunehmen, wo Unrecht geschieht, wo Menschen um ihrer ethnischen Herkunft, ihrer religiösen oder geschlechtlichen Orientierung und ihrer sozialen Situation verfolgt, entrechtet, ausgegrenzt oder gar mit Füßen getreten werden. Das ist eine bleibende Aufgabe, meine Damen und Herren, zu der uns ein Tag wie dieser immer wieder ermahnt.
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